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Drucktext von Erfahrungsbericht und Kommentar

11.08.2008

Trotz alledem

Ein Kommentar zum Prager Frühling 1968

von Bodo Gaßmann

Literatur zur Studentenbewegung 1968 hat Hochkonjunktur, über den Prager Frühling im gleichen Jahr liegt nichts in den Buchhandlungen. Dieser Kommentar, der die Möglichkeiten der damaligen sozialistischen Reformer einzuschätzen versucht, ist eine Ergänzung zu meinem Erlebnisbericht.

Da ist eine Clique von Apparatschicks in den kommunistischen Parteien der Ostblockstaaten, die sich anmaßt, die Interessen der Arbeiterklasse ihrer Länder zu vertreten. Dies kann sie nur, indem sie alle kritischen Meinungsäußerungen unterdrückt, damit diese Klasse gar nicht fähig sein kann, ihre Interessen selbst zu artikulieren. Die Abschaffung der Zensur und die aufblühende öffentliche Diskussion in den Medien und auf der Straße, wie es der Prager Frühling 1968 ermöglicht, lange vor Gorbatschows Glasnost, muss diesen Funktionären als Angriff auf ihre Macht, auf ihre Sonderrechte und ihr Herrschaftssystem erscheinen, das schon lange nichts mehr zu tun hat mit dem emanzipativen Anspruch, den die Idee des Sozialismus einst beinhaltete. Entsprechend kritisieren die „Bruderparteien“ auch, die Pressefreiheit würde „der Desorientierung der Arbeiterklasse und aller Werktätigen“ dienen (siehe Erlebnisbericht, Anm. 6). (Der repressiven Toleranz, die von der herrschenden Klasse im Westen praktiziert wird, nämlich die Massenmedien zu beherrschen, gegen deren Dröhnen kritische Medien nur leise anblöken können, trauen sie noch nicht.)

Heraus kommt in so einem System: Heuchelei, Desinformation, ideologische Verzerrungen bis hin zur direkten Lüge, Intrigen, Angst vor den Volksmassen, Diskriminierung und Terror. Doch solche Anklagen und moralischen Verdikte bleiben abstrakt, wenn man nicht die Bedingungen untersucht, unter denen solch ein Gesellschaftssystem des „monopolbürokratischen Kollektivismus“ (Kuron/Modzelewski) zustande gekommen ist und existiert. (1)

In der 2. Hälfte des 20er Jahre hatte die Sowjetunion die Alternative, nachdem die Weltrevolution ausgeblieben war, auf die man gehofft hatte, ihr sozialistisches Projekt aufzugeben (und evtl. so etwas zu machen wie heute in China, d. h. die „Neue ökonomische Politik“ fortzusetzen, oder den „Sozialismus in einem Land“ (Stalin) aufzubauen. Da in der damaligen bolschewistischen KP bereits viele Karrieren, Posten und Privilegien von Funktionsträgern eingenommen waren, der Blutzoll des Bürgerkrieges als Verpflichtung galt und die Aufgabe der Macht einem Todesurteil der Kader gleichgekommen wäre, konnte sich Stalin mit seiner Losung durchsetzen. Es ging letztlich nur noch um das Wie: Lang andauernde Förderung der Bauern, um von deren Mehrprodukt die Industrialisierung zu bezahlen (Bucharin) – oder – forcierte Industrialisierung mit einer etwaigen Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, um die Bauern, die Mehrheit der Bevölkerung, unter Kontrolle zu halten (Trotzki, Stalin). Die beispiellosen Erfolge der Industrialisierung, bei allen Fehlern, die gemacht wurden, und der Sieg der Sowjetunion über das faschistische Deutschland haben im Nachhinein dieser Variante eine gewisse Rechtfertigung gegeben – trotz des Terrors und der Entwicklung von der Diktatur des Proletariats über die der Partei bis zur Diktatur eines „Führers“ (Woschd). Ob die Industrialisierung auch humaner hätte durchgeführt werden können, darüber zu spekulieren ist aus heutiger Sicht müßig – die Geschichte war so und kann nicht mehr geändert werden.

Das Ergebnis der Industrialisierungsperiode war in den 50er Jahren nach Stalins Tod eine Einparteienherrschaft mit kollektiver Führung, die alle Bereiche des Lebens versuchte administrativ zu lenken. Man wollte weg von der oft willkürlichen Kommandostruktur unter Stalin, aber auch keine wirkliche sozialistische Demokratie zulassen. Breschnew lässt der tschechoslowakischen Führung diese Variante der politischen Herrschaft als Ratschlag zukommen:

„Wir waren überzeugt, daß Sie das Leninsche Prinzip des demokratischen Zentralismus wie Ihren Augapfel hüten werden. Jegliche Mißachtung einer Seite dieses Prinzips, sowohl der Demokratie als auch des Zentralismus, schwächt unvermeidlich die Partei und ihre führende Rolle und verwandelt die Partei entweder in eine bürokratische Organisation oder in einen Diskussionsklub.“ (2) 

Die Missachtung der einen Seite, der Demokratie, war Prinzip in der Sowjetunion, deshalb die Angst vor einem „Diskussionsklub“. Die Pressefreiheit in der ČSSR gefährdete die politische Herrschaft der KP’s und damit ihres autoritären Sozialismusmodells, das gar kein Sozialismus war.

Zurück zum Anfang

Betrachtet man die Politik von Gorbatschow, der an Bucharin anknüpfte, oder die der KP Chinas heute, dann muss man Breschnew insofern Recht geben, als eine Liberalisierung der Ökonomie oder der Gesellschaft oder beider das Ende des „Sozialismus“ dieser Art herbeigeführt hat. Die KPČ und die Mehrheit der Tschechen und Slowaken wollten aber am Sozialismus festhalten (siehe Erlebnisbericht, Anm. 7). Was also hatten sie überhaupt für realistische Möglichkeiten, einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu realisieren?

Die administrativ gelenkte starre Planwirtschaft der 60er Jahre hatte zu Versorgungsschwierigkeiten und einer mangelnden Entwicklung der Produktivität (im Vergleich zu Westeuropa) geführt. Da die Konsuminteressen der Werktätigen nur unzureichend in die Planziele eingingen (also bei der Planzielbestimmung keine Mitbestimmung bestand), breitete sich Desinteresse, Schlendrian und Arbeitsbummelei aus. (Ein Fiatwerk, das mit gleicher Technik in Moskau wie sein Schwesterwerk in Italien betrieben wurde, hatte in Moskau eine 30 % niedrigere Arbeitsproduktivität. Ähnliches wird für die ČSSR gegolten haben.) Nun könnte man sagen, dass die Arbeit humaner war, nicht so eine Arbeitshetze wie im Westen herrschte usw. Aber diese Art des Sozialismus, wie immer er sich vom kapitalistischen Weltmarkt abschottete, stand doch militärisch in Konkurrenz zu den imperialistischen Staaten des Westens. (Erinnert sei an Reagens Leitlinie, die Sowjetunion „totrüsten“ zu wollen.) Konkret wirkte sich diese Konkurrenz im Ostblock dadurch aus, dass die Schwerindustrie und mit ihr die Rüstungsindustrie mehr gefördert wurde als die Konsumgüterindustrie.

Insgesamt zeigt sich an diesem Dilemma, humaner als der Kapitalismus sein zu wollen und doch in der Konkurrenz mit ihm mithalten zu können, die historische Unmöglichkeit, Sozialismus in einem oder ein paar Ländern errichten zu können. Entweder man versucht mit dem kapitalistischen Westen ökonomisch mitzuhalten, dann muss man administrativen Zwang auf die Bevölkerung ausüben und die emanzipatorische Seite des Sozialismus verschwindet, also das, was ihn vom kapitalistischen System wesentlich unterscheidet. Oder man könnte sich abschotten vom Weltmarkt, um sich eine langsamere Entwicklung zu erlauben, die ökologisch und sozialverträglich ist und den emanzipatorischen Aspekt nicht nur in der Propaganda beachtet, dann gerät man militärisch in Nachteil und unterliegt letztlich dem roll back.

Der einzige ernst zu nehmende alternative Versuch, Sozialismus in Konkurrenz zum kapitalistischen System zu betreiben, war im Prager Frühling der sogenannte Dritte Weg von Ota Šik. Er wollte eine sozialistische Marktwirtschaft, die Befreiung der Betriebe von staatlicher Führung, den Abbau der Bürokratie und die Zulassung autonomer Gewerkschaften und privater Kleinbetriebe sowie Joint Ventures mit westlichem Kapital. Weiter gehörten zu seinem Konzept die Einführung der Arbeiterselbstverwaltung und das Ende der staatlichen Lenkung der Preisbildung.

Der Unterschied zur kapitalistischen Wirtschaft der bürgerlichen Demokratien wäre dann lediglich einer der Eigentumsverhältnisse. Statt Privatkapital hätten die Betriebe gesellschaftliche Eigentümer und ansonsten würden sie sich vom kapitalistischen System bestenfalls durch ein paar mehr soziale Einrichtungen unterscheiden. Sie wären wie die kapitalistischen Betriebe den Konjunkturen und Krisen des Marktes ausgesetzt. Die Umgestaltung müsste zu ähnlichen Katastrophen für die Werktätigen führen wie später die Deindustrialisierung der vereinnahmten DDR und die der ČSR. Denn die Betriebe der ČSSR würden, dem Weltmarkt ausgesetzt, wegen ihrer mangelnden Produktivität Pleite gehen. Schottete sich der „Dritte Weg“ jedoch vom Weltmarkt ab, dann gäbe es keine Joint Ventures. Kein westliches Kapital mit höherer Produktivität würde investieren und die alten Probleme eines isolierten Sozialismus würden sich reproduzieren.

Fazit: Wären die Warschauer-Pakt-Staaten nicht einmarschiert, dann wäre der Prager Frühling vielleicht in den Herbst der Sachzwänge versandet. Nichtsdestotrotz hätte er versucht werden müssen. Keine Theorie kann exakt voraussagen, welche Potenzen in den Menschen schlummern, wie kreativ sie mit ihren Problemen umgehen. Die Demokratisierung einer Gesellschaft mit sozialistischen Produktionsverhältnissen ist die condito sine qua non, emanzipatorische Kräfte zu entbinden. Es war der einzige historische Versuch, der Menschheit zu zeigen, wohin ihre Entwicklung hätte gehen können. Die Tschechen und Slowaken waren für einen kurzen Moment der Geschichte die Avantgarde der Menschheit. Der Einmarsch hat aus dem Frühling mit einem Schlag einen harten Winter gemacht, dessen mieses Wetter weiter besteht, auch wenn Väterchen Frost verschwunden ist. Am Barometer der sich prostituierenden Frauen an der tschechischen Grenze zu Deutschland lässt sich der Stand des Wetters ablesen, den die Freiheit des Kapitals mit sich brachte.

Anmerkungen

  1. Vgl. meine Aufsätze zum Zerfall des Ostblocks und der DDR:
    - Klarstellungen zum Wendesozialismus. Oder wie der monopolbürokratische Kollektivismus sich reformiert, in: Erinnyen. Zeitschrift für materialistische Ethik. Hrsg. vom Verein zur Förderung des dialektischen Denkens. Nr. 5, Garbsen 1990, S. 8 – 12.
    - Wohin geht die DDR? Friedliche Eroberung oder eigenständiger Weg?, in: Erinnyen. Zeitschrift für materialistische Ethik. Hrsg. vom Verein zur Förderung des dialektischen Denkens. Nr. 6, Garbsen 1991, S. 4 – 25.
  2. Der Fall CSSR. Strafaktion gegen einen Bruderstaat. Eine Dokumentation. Redaktion Klaus Kamberger, Ffm. 1968, S. 127.

 

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Letzte Aktualisierung: 02.09.2010