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Vom Weblog der Erinnyen Aktuell  veröffentlicht im August 2008

Erlebnisbericht (9.8.2008) und
Kommentar (11.8.2008) zum Prager Frühling 1968

 

Mein 1968
Erfahrungen im Prager Frühling

In Jahre 1967/68 studierte ich in Leipzig Geografie und Mathematik, zwei Fächer, die ich als Jugendlicher mochte, nun mit 21 Jahren interessierte sie mich kaum noch. Ich las auch lieber Bücher, die mich weiter brachten in meiner intellektuellen Entwicklung, als die Physik des Regentropfens in seiner Wirkung auf einen Erdkrümel nachzuvollziehen, die von einem autoritären Professor verkündet wurde und von uns Studenten gelernt werden musste. Es ging an dieser Uni alles sehr steif zu, der Assistent machte einen neunzig-Grad-Bückling vor dem Herrn Professor und ich dachte in einer Operette zu sein, die im 19. Jahrhundert in der K. und K. - Monarchie spielt. Von einer Atmosphäre, die im berühmten Hörsaal 40 herrschte, in der Ernst Bloch und Hans Meyer lehrten, war für mich jedenfalls nichts mehr zu spüren.

Bloch war 1961 und Meyer 1963 in den Westen gegangen, ich hatte Letzteren also um vier Jahre verpasst. 1973, als ich dann in Hannover meine Neigungsfächer Deutsch und Geschichte studierte (später kam noch Philosophie hinzu), war Hans Meyer auch gerade wieder gegangen – diesmal nach Tübingen, wo auch Bloch noch lehrte. So kannte ich die beiden allein aus ihren Büchern.

Die fehlerhafte Linie der Führung hat diese Partei aus einer politischen Partei und einem idealistischen Verband in eine Machtorganisation verwandelt, die eine gewaltige Anziehungskraft auf herrschsüchtige Egoisten ausübte, auf skrupellose Feiglinge und Leute mit schlechtem Gewissen. (…) Viele Kommunisten haben versucht, gegen diesen Verfall anzukämpfen, aber es ist ihnen nicht gelungen, auch nur ein wenig davon zu verhindern, was dann Wirklichkeit geworden ist.(1)

Da ich dank meiner Westtante Nylonhemden und von mir aus längere Haare und lange Koteletten trug, wurde ich auch einmal vor ein FDJ-Gremium geladen, wo man mich zur Rede stellte. Als Hörer von Beatmusik und Jazz gingen mir diese Vorhaltungen am Arsch vorbei, ich habe ihre Argumente nicht begriffen. Es ging wohl nur darum, den äußerlich Unangepassten zum Kuschen zu bringen. Während im Westen Deutschlands die langhaarigen Studenten auf die Straße gingen, wir im Osten zumindest ihren Lebensstil nachahmten – gegen den penetranten Widerstand der Parteibürokraten -, faszinierte uns immer mehr eine Entwicklung, die 1967 in der ČSSR sich manifestierte, im „Prager Frühling“ 1968 mündete und schließlich mit dem Einmarsch der sowjetischen Armee endete.

Anfang Januar 1968 kam es auf der Tagung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei zu einer Auseinandersetzung der progressiven und konservativen Kräfte, die den Beginn einschneidender gesellschaftlicher Wandlungen bedeutete.(2)

Der Prager Frühling (…) ist die Bezeichnung für die Bemühungen der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei unter Alexander Dubček  im Frühjahr 1968, ein Liberalisierungs- und Demokratisierungsprogramm durchzusetzen, sowie vor allem die Beeinflussung und Verstärkung dieser Reformbemühungen durch eine sich entwickelnde kritische Öffentlichkeit. (…) 
   Die Bezeichnung „Prager Frühling“ leitet sich vom gleichnamigen Musikfestival ab. (3)

Die ersten Informationen über die Veränderungen in der ČSSR („Tschechoslowakische Sozialistische Republik“) bekam ich aus dem „Neuen Deutschland“ und anderen Presseerzeugnissen, die zunächst die Resolutionen der KPČ durchaus dokumentierten. Später wurden die Artikel und Kommentare immer kritischer und schließlich polemisch und verfälschend. Aus dem Gegenstand der Kritik und zwischen den Zeilen, aber auch aus dem Westrundfunk, der in Leipzig zu empfangen war, konnte ich erkennen, was die Reformer wollten – und das, wie z. B. die Abschaffung der Zensur, begeisterte mich.

Das Präsidium des ZK der KPČ beschloss, bei den Beratungen des ZK eine solche Atmosphäre zu schaffen, die die Freiheit der Kritik und des schöpferischen Wettstreits der Anschauungen, die Beurteilung von verschiedenen Varianten und Standpunkten ermöglichen wird.(4)
In der Schule wurde ich im Sinne der DDR-Ideologie und ihrer Schwankungen erzogen, zu Hause eher antikommunistisch beeinflusst (meines Großvaters Devisen waren: „Kompanie ist Lumperie“, „die DDR übt genau so ein Abgabezwang auf uns Bauern aus wie die Nazis“, „1959 wurde uns das Vieh, die Maschinen und das Land weggenommen“ (als wir in die Genossenschaft mussten)). Vor allem durch den Dirigismus bei meiner Berufswahl war ich eher abgeneigt von diesem Staat (da meine Eltern aus der Landwirtschaft kamen, musste ich einen landwirtschaftlichen Beruf erlernen) – doch in den Jahren 1966 bis 1968 gab es doch auch Raum für Hoffnungen auf einen Sozialismus, der nicht administrativ sein sollte, in dem die Menschen nicht belogen und gegängelt wurden. Zögernde Sympathien für den DDR-Staat keimten auf. Die Literatur bestärkte mich darin, etwa Christa Wolfs „Geteilter Himmel“ oder Eric Neutsch „Spur der Steine“. Im Staatsbürgerkunde-Unterricht in der Abendschule konnte man über die negativen Erscheinungen zumindest ansatzweise diskutieren. In meinem Betrieb hatte ich ein langes Gespräch über das Rätesystem, von dem ich seine Prinzipien aus dem Geschichtsunterricht kannte, mit einem aufgeschlossenen Kaderleiter.

Außerdem ist die Ablehnung Dubčeks, über die Führungsrolle der Partei zu diskutieren, im höchsten Maße unreal. Wenn die führenden Stellen es verbieten, die Frage in ihrer Gesamtheit grundsätzlich zu stellen, so wird die Frage in jeglichem Gespräch über jedwede konkrete Maßnahme, an die Partei oder Staat herangegangen sind, implizit und demnach in deformierter Gestalt stets von neuem auftauchen. Das ist gewöhnlich das peinlichste Ergebnis von Verhältnissen, die sich auf die Unterdrückung der grundlegenden politischen Probleme gründen. (5)

Bekannte von mir, auch Studenten an der Leipziger Universität, fuhren im Frühjahr nach Prag und brachten Broschüren und einen „Spiegel“ mit, den man dort frei kaufen konnte. Darin las ich das noch heute berühmte Interview mit Rudi Dutschke, das ich mit Begeisterung und Skepsis studierte. Begeisterung, weil darin eine Vorstellung von Sozialismus angedeutet wurde, die auch mein erwachendes sozialistisches Bewusstsein reizte, mit Skepsis, weil das Vokabular mich stark an das „Neue Deutschland“ erinnerte. (Erst später in der U-Haft in Leipzig las ich den ersten Band des „Kapitals“ von Marx und hatte meine profane Erleuchtung. Die Aufzeichnungen besitze ich noch, sie sind rein rezeptiv (schon wegen etwaiger Filzung), dennoch bin ich durch dieses Buch endgültig Sozialist geworden. Als ehemaliger Produktionsarbeiter konnte ich das kritische Potenzial dieser Analyse des Kapitalismus auch auf meine DDR-Lage beziehen: Vor allem die Erkenntnis, dass ich genauso ausgebeutet wurde wie meine Kollegen im Kapitalismus, solange ich nicht politisch über das erarbeitete Mehrprodukt mitbestimmen konnte, beeindruckte mich stark.)

Keine Organisation, auch keine kommunistische, gehörte in Wirklichkeit ihren Mitgliedern. Die Hauptschuld und der allergrößte Betrug dieser Herrscher ist es, daß sie ihren Willen für den Willen der Arbeiterschaft ausgegeben haben. (6)

Zum ersten Mal las ich auch originale Schriften von Autoren des „Prager Frühlings“, die in deutscher Sprache dort zu haben waren. Ich musste unbedingt dorthin, mir selbst eine Vorstellung von dem neuen Kurs eines Dubček verschaffen. Die Vorbereitungen waren nicht einfach. Zwar war die Visapflicht zwischen der DDR und der ČSSR abgeschafft, aber man brauchte dennoch eine Art Genehmigung. Ich war nervös, bis ich endlich Anfang August 1968 meine Ausreisegenehmigung bekam. Den nächsten Tag saß ich auf meinem Motorrad (250er MZ) und fuhr über die Landstraßen von Leipzig über Brno nach Bratislava.

Die erste Wegstrecke von Leipzig nach Brno dauerte 12 Stunden und ich fiel wie gerädert in mein angemietetes Zelt, mein eigenes aufzubauen, hatte ich keine Lust mehr. Wegen der Anspannung der langen Fahrt konnte ich kaum schlafen. Doch am nächsten Morgen nach Bratislava ging alles schneller und leichter. Der Umweg über Bratislava nach Prag hatte Gründe, die zu einer anderen Geschichte gehören. Es war hauptsächlich die Grenze zu Österreich, die ich erkunden wollte. Fast eine halbe Stunde fuhr ich am Grenzzaun entlang. Hier die Straße, auf der ich mit meinem Motorrad fuhr, rechts von mir ein einfacher Drahtzaun, der allerdings oben mit einem halben Meter flachliegenden Draht und mit Sensoren gesichert war. Dann kam die Moravě, ein zehn Meter breiter Fluss, und schließlich das österreichische Ufer. Alle zweihundert bis fünfhundert Meter kam ein Wachturm, auf dem meist ein Grenzpolizist saß und sich langweilte. Es schien mir nicht schwierig evtl. bei Nebel nach Österreich zu gelangen. Aber es war kein Nebel, die Angst erschossen zu werden und der neue Kurs in Prag, der Hoffnung machte für den ganzen Ostblock, hielten mich davon ab, es zu versuchen. Mein Plan bestand auch nur darin, nach solch einer Möglichkeit der Flucht Ausschau zu halten.

(Mai 1968): Nach der Orientierungsforschung der öffentlichen Meinung erachteten zwei Drittel von 1476 befragen Bürgern den jetzigen Erneuerungsprozess in der ČSSR als eine dauernde Änderung, etwa ein Fünftel weiss nicht, ob es sich um dauernde oder vorübergehende Änderungen handelt, ein Siebentel schreibt ihm vorübergehende Bedeutung zu. 75 % Tschechen und 77 % Slowaken erwarten, dass das gegenwärtige Geschehen zur Stärkung des Sozialismus beiträgt. Befürchtungen um seine Schwächung sprachen 7 % in Böhmen und 5 % in der Slowakei aus. Eine Stärkung der Demokratie sehen 88 %, eine Schwächung 1 %, „ich weiß nicht“ antworteten 11 %. (7)

Während meiner Motorradreise von Brno nach Bratislava nahm ich einen Studenten mit. Er lud mich zu seiner Familie ein und bummelte mit mir durch Bratislava. Leider konnte ich kein Tschechisch, er kein Deutsch und unser bisschen Schulenglisch (eine AG hatte ich besucht) reichte nicht aus, um über qualifizierte Themen zu reden. Dennoch bekam ich einen ersten Eindruck von dem neuen Kurs: Das Überraschende - nicht alle waren damit einverstanden, obwohl allgemein große Euphorie bei den Gesprächen herrschte, wenn man auf Dubček  zu sprechen kam. Eine alte Dame, die noch die Vorkriegszeit erlebt haben musste und ihren Schmuck und ihrer Kleidung nach sehr wohlhabend aussah, schimpfte auf den neuen KPC-Chef und die anderen Reformer, sie seien auch bloß Kommunisten, würden genauso von oben administrieren – auch wenn sie einen liberaleren Kurs einschlügen, erst wenn freie Parteien sich der Wahl stellen würden, könnte sich prinzipiell etwas ändern. So jedenfalls ist mir die Meinung der alten Dame, die gut Deutsch sprach, in Erinnerung.

Die politische Machtstruktur in Stadt und Land blieb von den letzten Veränderungen fast unangetastet.  Eine Leserin aus einer Kreisstadt in der Nähe von Prag konnte deshalb mit Recht schreiben: „Wenn wir nicht die Presse, Rundfunk und Fernsehen hätten, würde hier überhaupt niemand wissen, daß irgendwo ein Reformprozeß im Gange ist.“(8)

In Prag habe ich solch eine Meinung wie die der Dame aus Bratislava kaum gehört, obwohl ich tagsüber von einer Diskussionsgruppe zur anderen wanderte, meist bloß zuhörte, soweit sie deutschsprachig waren – bis mir meine Füße weh taten oder ich Gulasch mit Knödeln essen ging. Man schätzte wohl die Möglichkeit der Reformer realistischer ein.

Es waren alle Richtungen vertreten: Liberale, Konservative, Leute aus der westdeutschen Studentenbewegung, deutschsprachige Prager Bürger, Kommunisten, Sozialisten, Studenten aus der DDR und der BRD, junge Tschechen, Prager Intellektuelle. Sie standen auf dem Wenzelsplatz bis zum Altstädter Ring, unter dem Reiterstandbild des Heiligen Wenzel bis zum Denkmal von Jan Hus. An einigen Wänden hingen Plakate über den neuen Kurs der Partei, aber auch Wandzeitungen, die weitergehende Reformen verlangten. Es war für mich eine Lust, diesen freien Diskussionen zu lauschen. Selbst noch ungefestigt, ein Sucher, der zwar weiß, was er nicht will, aber nicht weiß, was er will. So etwas hatte ich bisher nur ansatzweise zum Jugendtreffen 1964 in Ostberlin erlebt, als Westberliner Studenten eingeladen waren, die nicht weit vom Brandenburger Tor in der Straße unter den Linden mit  DDR-Jugendfunktionären und zufälligen Anwesenden über die Missstände in der DDR, den Sozialismus und den kapitalistischen Westen diskutierten.

Hier in Prag waren diese Gespräche aber nicht organisiert oder von Funktionären mehr oder weniger dominiert, auch wenn sie sich kritischen Fragen stellen mussten, sondern waren entsprechend dem Diskussionsbedarf der Bevölkerung und der Besucher aus den Ausland völlig frei. Bei den vielen Themen, die angeschnitten wurden, den Reden über die Probleme des Sozialismus damals, die ich erst während meines Geschichtsstudiums in Hannover wirklich geistig durchdrang, ist mir doch eine Aussage eines Schweizers in Erinnerung geblieben, deren Tendenz ich bis heute behalten habe und die ich mir zu eigen gemacht habe.

Vom Süden kommt der Fluß herbeigeströmt. Sein Name ist Vltava – die Moldau. Er kommt aus der Ferne, aus der Tiefe der böhmischen Landschaft, und auf den Zauberspiegeln seiner Wellen bringt er der Stadt Prag ihre Lieblichkeit. Prag fällt in seine tausenden Spiegel wie Lichtstrahlen in ein Objektiv, und der Fluß nimmt das Bild der Stadt mit in das geheimnisvolle Strömen der Umarmung. Unter dem Felsen von Mělník, wo Moldau und Elbe sich vermählen, übermittelt sie Prags Bild den meerwärts fließenden Gewässern.(9)

Er sagte, im kapitalistischen Westeuropa haben wir eine politische Demokratie, aber der Bereich der Wirtschaft wird autoritär von den Eignern der Produktionsmitte bestimmt, denen sich die Politik letztlich anpassen muss. Im Ostblock sind die Produktionsmittel zwar vergesellschaftet, aber über die Zwecke der Produktion und das politische Leben bestimmt allein die Parteibürokratie bzw. Ihre Führung. Das Neue, das Revolutionäre, das Alternative des Prager Frühlings besteht nun darin – so der Schweizer -, dass der Weg zur Demokratisierung des Landes beide Bereiche, die Ökonomie und die Politik, unter die Kontrolle der Bevölkerung stellt, erst dadurch sind die Produktionsmittel wirklich vergesellschaftet und die Bevölkerung kann ihre Interessen politisch artikulieren und durchsetzen.

Der Sozialismus ist eine menschliche Gemeinschaft, die nur mit der Unterstützung der Mehrheit der Gesellschaft erfolgreich leben kann und nicht gegen ihren Willen. Von dieser Erkenntnis gehen auch die demokratischen Reformen des tschechoslowakischen Modells des Sozialismus aus. (…) Die Kardinalfrage ist das Problem der Kontrolle der politischen Macht im Sozialismus. (10)

Dieser Gedanke müsste selbstverständlich noch konkretisiert werden. Es wird in dieser Kürze abstrahiert von dem Einfluss des Westens mit seinen Konsumlockungen, ein Konsum, der doch nur immer einem Teil der Bevölkerung möglich ist. Es wird abstrahiert von der weltpolitischen Lage, der Macht der Parteibürokratie im in den anderen staatsmonopolistischen Ländern des Ostblocks. Auch der viel diskutierte „Dritte Weg“ zwischen Markt- und Planwirtschaft, wie ihn Ota Šick durchsetzen wollte, hat seine Aporien (siehe Kommentar). Aber als Zielvorstellung hat dies Formel von der Demokratisierung der Politik auf der Grundlage vergesellschafteter Produktionsmittel (im Gegensatz zu bloß verstaatlichten) durchaus ihre Berechtigung, weil nur so eine vernünftige Gestaltung  der Gesellschaft möglich ist.

Der entscheidende Einwand gegen diese Zielsetzung der Reformer kam allerdings nicht aus dem Westen, wo man der Schwerkraft der ökonomischen Sachzwänge sich anvertraute, wo man bei so einem Kurs der ČSSR hoffte, dass sie aus dem Osten ausbrechen und in den Schoß der freien Welt des Marktes zurückkehren würde; er kam auch nicht durch die Praxis, an der sich die neuen Ideen zu bewähren hatten – er kam aus der Parteibürokratie des sowjetischen Lagers, die, weil sie keine stichhaltigen Argumente hatte, auf die Panzer verfiel.

Es gab mehrere Treffen, auf denen Dubček und seine Reformer bearbeitet wurden, es gab faule Kompromiss-Papiere und es gab Besuche von anderen Staatsführern. Tito war da, in dessen Land eine halbherzige Rätedemokratie praktiziert wurde, die aber einer Autoritätsfigur bedurfte, um das heterogene Jugoslawien zusammen zu halten. Er stand voll hinter den Reformern, gehörte aber nicht zum Ostblock, sondern zu den sogenannten blockfreien Staaten. Und es kam Ceaucesku, der Führer Rumäniens, der damals noch nicht der schäbige Diktator war, sondern durchaus Sympathien in der Bevölkerung genoss, weil er einen freieren Kurs gegenüber der Sowjetunion verfolgte, ohne allerdings in seinem Land solche Reformen wie in der ČSSR einzuschlagen.

Teure Genossen!
Im Namen der Zentralkomitees der kommunistischen Arbeiterparteien Bulgarien, Ungarns, der DDR, Polens und der Sowjetunion wenden wir uns an Sie mit diesem Brief, der diktiert ist von aufrichtiger Freundschaft (…) und von Sorge um unsere gemeinsamen Angelegenheiten (…) Ihnen ist bekannt, daß die Bruderparteien die Beschlüsse des Januar-Plenums des ZK der KPC mit Verständnis aufgenommen haben in der Überzeugung, daß Ihre Partei die Hebel der Macht fest in ihren Händen halten, den ganzen Prozeß im Interesse des Sozialismus lenken und der antikommunistischen Reaktion nicht gestatten wird, diesen Prozeß für die eigenen Zwecke zu mißbrauchen. (…) Leider nahmen die Ereignisse einen anderen Verlauf. Die Kräfte der Reaktion nutzen die Schwächung der Führung des Landes durch die Partei aus, mißbrauchen demagogisch die Losung der „Demokratisierung“(…) Die in der letzten Zeit außerhalb der Nationalen Front entstandenen politischen Organisationen und Klubs sind im Grunde genommen zu Stäben der Kräfte der Reaktion geworden. (…) Die antisozialistischen und revisionistischen Kräfte haben die Presse, den Rundfunk und das Fernsehen an sich gerissen und sie zu einem Sprachrohr der Angriffe gegen die Kommunistische Partei, der Desorientierung der Arbeiterklasse und aller Werktätigen, einer zügellosen antisozialistischen Demagogie (…) gemacht. (…) Deshalb meinen wir, daß die entschiedene Zurückweisung der Angriffe der antikommunistischen Kräfte und die entschlossene Verteidigung der sozialistischen Ordnung in der Tschechoslowakei nicht nur Ihre, sondern auch unsere Aufgabe ist. (11)

Als ich in Prag war, besuchte auch Ceaucesku die politische Führung in der ČSSR. Auf dem Hradschin traf er Swoboda, den damaligen Präsidenten, und wurde von den Massen vor dem Präsidentenpalast freudig begrüßt. Auch ich war unter den Applaudierenden und habe ihn von Weitem aus den Auto steigen sehen.

Sein Interesse war wohl weniger der neue Kurs der KPČ, sondern die Solidarität mit einem Land, das sich auch unabhängiger von Moskau und der Breschnew-Doktrin (12) machen wollte. Doch wenn antagonistische Interessen aufeinanderprallen, Argumente nicht mehr wirken oder man sich schon in den obersten Prinzipien nicht einig ist, dann entscheidet die Gewalt, dieses Mal in Gestalt der Sowjetarmee als treuer Knüppel der KPdSU.

Natürlich war Prag nicht nur wegen des neuen Kurses interessant, sondern auch wegen der Literatur, der Geschichte der Stadt und ihrer Architektur: Ein Ort, der nicht durch die Bomben des 2. Weltkrieges, durch das Baukapital im Westen oder durch die Spießermentalität beschränkter Funktionäre in der DDR zerstört wurde – wie etwa Teile von Frankfurt am Main, Leipzig und Ostberlin. Ich genoss die Atmosphäre dieser Stadt, ohne auf Einzelheiten zu achten, zumal ich mit einem Reisebüro bereits ein paar Jahre vorher die Sehenswürdigkeiten kennengelernt hatte. Mich zog es in den Jazz-Klub, den es heute noch gibt, um live Jazzmusik zu hören, und mehr zur Unterhaltung – in den Beatlesfilm „Help“, der gerade in Prag in den Kinos lief.

Als Jugendlicher in der DDR hatte ich zufällig die einzige Langspielplatte der Beatles bekommen, die dort erschien. Ich ging in meiner Heimatstadt Nordhausen die Bahnhofsstraße entlang, sah die Platte im Schaufenster und wusste: Die musst du sofort kaufen. Und tatsächlich, als ich am Abend wieder von der Arbeit zurückkam, war sie bereits ausverkauft. Geld hatte ich immer bei mir, aber Waren gab es nicht genug, sodass man sich solch eine Gelegenheit nicht entgehen lassen konnte. Ein paar Tage nach dem Kauf der LP von den Beatles wurde sie wieder aus den Geschäften zurückgezogen – wenn es überhaupt noch welche dort gab -, da wieder irgendein Parteibeschluss die Beatmusik bekämpfte; in den Wellen zwischen Lockerung und Strenge der Kulturpolitik wurden wieder einmal die Jugendlichen gegängelt, als ob nicht fast alle westliche Rundfunksender hörten und mitschneiden konnten. Nun aber in Prag war ich überwältigt, als auf der Großleinwand ein paar Meter über mir Ringo Star den Song Help auf dem Schlagzeug trommelte.

Help me if you can. I’m feeling down. And I do appreciate you being ’round. Help me get my feet back on the ground. Won’t you please help me? (Lennon/McCartney)

Die Geschichte im Film ist banal, sie lebt von Gecks der Pilzköpfe, wegen deren Frisur auch ich in der Leipziger Uni Schwierigkeiten hatte. Der Unterschied im Niveau zwischen modernem Jazz guter Prager Bands und den Banalitäten der Beatles und ihrer schon besseren Unterhaltungsmusik interessierte mich nicht. Es kam mir damals mehr auf das Lebensgefühl an, dass sie verkörperten, den anarchischen Individualismus, den sie imaginierten und den man wenigstens in seiner Freizeit genießen wollte. Die Kulturrevolution im Westen, die von der Sparsamkeitsmentalität der 50er Jahre zur Konsummentalität mit mehr Sinnesoffenheit in den 60ern führte, hatte auch die DDR-Jugend ergriffen, auch wenn es mit dem Konsum bescheiden war.

Selbstverständlich klapperte ich auch alle Buchhandlungen und Antiquariate ab, die ich zufällig entdeckte,  um deutschsprachige Literatur über den neuen Weg zu bekommen. In einer kleinen Buchhandlung führte mich ein älterer Mann zu dem Regal, das deutsche Titel enthielt und empfahl mir einen neuen Lyrikband. Auch ich hatte schon mit Gedichten dilettiert und las die Zeitschrift „Neue deutsche Literatur“, in der oft auch Texte veröffentlicht wurden, die aus Werken stammten, die später nicht erscheinen durften, ebenso enthielt sie Formexperimente westlicher Autoren. Also, obwohl ich durchaus empfänglich war gegenüber moderner Lyrik, war es mir hier unmöglich mich mit verschlüsselten Metaphern herumzuschlagen. Ich wollte etwas über den „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ lesen, die neuen ökonomischen Vorstellungen eines „Dritten Weges“. Der alte Buchhändler war dann auch sichtlich enttäuscht, als ich statt des Lyrikbändchens ein statistisches Taschenbuch über die letzten Jahre kaufte. Es tut mir leid, alter Mann, in Leipzig hätte ich den Band sofort gekauft, aber hier in Prag musste ich auf den Platz unter meiner Motorradjacke für die Konterbande achten – und da war politische Literatur wichtiger als poetische Metaphern.

Ich wäre gern noch ein paar Tage in Prag geblieben, doch leider war mein Urlaubsgeld aufgebraucht. Als ich am 19. August 1968 zum letzten Mal in diesen Urlaub durch die Innenstadt schlenderte, sah ich keine Diskutierenden mehr. Sobald sich eine Gruppe versammelte, kam ein Polizist und forderte die Diskutierenden höflich, aber bestimmt auf, weiterzugehen, sich zu zerstreuen. Anscheinend wurde der Druck durch die Warschauer-Packt-Staaten derart groß, dass die tschechoslowakische Führung von sich aus die auffälligsten Erscheinungen des Prager Frühlings verschwinden lies. Auch die Plakate waren abgenommen. Ich trollte mich zurück zu meinem Campingplatz am Rande Prags, packte meine Sachen, um am anderen Morgen, es war der 20. August, nach Hause, das heißt, in meine Studentenbude nach Leipzig zu fahren.

Mit mir führte ich einige Bücher, Broschüren und Zeitschriften, die man mir an der Grenze zur DDR abgenommen hätte, wenn sie entdeckt worden wären. Da ich schon als Kind gelernt hatte, Lebensmittel von Ost nach West, von dem Bauernhof meines Großvaters zu meiner Tante in Wunstorf bei Hannover, die sich damals nicht viel leisten konnte, zu schmuggeln, kannte ich die Regel: Wenn sie kontrollieren, dann durchsuchen sie eher den Koffer oder die Taschen, bevor sie eine Leibesvisitation machen. Deshalb versteckte ich meine schriftliche Konterbande unter meinem Hemd, darüber die Motorradjacke (aus Lederol) und fuhr auf die Grenze im Erzgebirge zu.

Einige Blätter der DDR brachten alarmierende Nachrichten, dass in Prag nicht näher bezeichnete amerikanische Militäreinheiten mit Panzern eingetroffen sind und auch Einheiten und Panzer der Bundeswehr erwartet werden. Das Tschechoslowakische Pressebüro ČTK dementiert diese Nachrichten mit einer Erklärung des Direktors des Tschechoslowakischen Staatsfilm, A. Polednak. Es handelt sich hier um Dreharbeiten zu dem amerikanischen Film „Die Brücke bei Remagen“, wobei übermalte tschechoslowakischer Panzer verwendet wurden. Auch kostümierte tschechoslowakische Soldaten nahmen an den Filmaufnahmen teil. Die einzigen Amerikaner, die bei dieser Gelegenheit in Prag auftraten, waren 15 amerikanische Schauspieler. (13)

Die erste Merkwürdigkeit, die mir widerfuhr, war eine tschechische Gradstreife. In der DDR durfte man mit einem einspurigen Fahrzeug ein zweispuriges auch im Überholverbot passieren, falls es der Gegenverkehr zulässt. Da die Straße frei war, überholte ich einen langsamen LKW. Was ich nicht wusste, war, dass dies in der ČSSR verboten war, jedenfalls nach den Gesten des Polizisten zu schließen. Er brummte mir einen Strafzettel auf, den ich nicht mit Kronen bezahlen konnte; kurzerhand schrieb er meinen Verstoß auf die Visabescheinigung, die ich an der Grenze vorzeigen und dann in DDR-Mark auslösen sollte. An dem Grenzübergang hoffte ich diesen „Strafzettel“ als Ablenkungsmittel einsetzen zu können: Der reuige Sünder bezahlt zerknirscht seine Strafe und kann so seine Bücher schmuggeln. Aber es lief alles viel einfacher. Die Tschechen kontrollierten gar nicht mehr, sondern winkten mich durch; die DDR-Grenzer wollten nur mein Visum (oder wie das Ding damals im Bürokratendeutsch geheißen hat) haben. Als der Grenzer den Vers auf dem Papier sah, fragte er amüsiert, was ich angestellt hätte. Ich sagte die Wahrheit, verschwieg aber den Zahlungsbefehl. Er konnte kein Tschechisch und ließ mich mit einem spöttischen Zeigefinger passieren.

Warum das alles so einfach ging, wurde mir erst später klar. Von meinen Bekannten wusste ich, dass zumindest ihre Koffer ausgiebig gefilzt worden waren, nicht nach Zigaretten oder Slimowitz, sondern nach verbotenen Schriften, also alles Gedruckte aus der ČSSR. Der Grund, warum die Grenzer froh waren, ihre Bürger wieder einsammeln zu können, begann hinter der Grenze sichtbar zu werden. Kilometer um Kilometer lang fuhr sich mit meiner MZ an sowjetischen Panzern vorbei. Sie parkten links und rechts von der Straße, Soldaten liefen um die Stahlkolosse herum oder sonnten sich in der Nachmittagssonne. So wie ich an der Grenze bei Bratislava ein zwiespältiges Gefühl hatte, einmal schien die Grenze überwindbar, andererseits bereitete schon der Gedanke an Flucht Angst, erwischt zu werden, so wusste ich hier, Breschnew macht mit seinen Drohungen Ernst, aber zugleich dachte ich auch, vielleicht belässt er es bei der Drohung, denn die Tschechoslowaken begannen schon einen Rückzieher zu machen, wie ich am Vortag in Prag erfahren musste.

Gegen 22.30 Uhr am 20. August in einer Präsidiumssitzung der KPČ wurde Ministerpräsident Cernik herausgerufen. Als er zurückkam, meldete er: „Die Okkupation beginnt. Sie kommen.“ (14)

Leider bewahrheitet sich oft die schlechtere Variante. Als ich am 21. August 1968 in meiner Leipziger Studentenbude erwachte und das Radio einschaltete, kamen ständig Meldungen über den Einmarsch der „Bruderstaaten“ (die DDR durfte keine Soldaten schicken - zum Leidwesen von Ulbricht – sie leistete aber logistische Hilfe und die Staatssicherheit operierte in der ČSSR). Da mein Radio auch Kurzwelle empfing (wegen „Radio Luxemburg“ und der Popmusik), drehte ich solange an den Kondensatoren, bis ich die Hilferufe der nun illegalen tschechischen Sender empfing. Es war ein bloß moralischer, ansonsten aber hilfloser Protest.

Auf dem Prager Wenzelsplatz fallen nach der relativ ruhig verlaufenen Nacht zum Donnerstag am frühen Morgen wieder Schüsse. Auf dem Platz stehen acht sowjetische Panzer in Kreisformation, Ihre Besatzungen können jede Ecke unter Feuer nehmen. Radio Freies Prag ruft zu Blutspenden auf, da es in den Straßen der Stadt zu schweren Kämpfen gekommen sei.(15)

Der Westen wollte nicht eingreifen, nicht nur weil das Krieg bedeutet hätte, sondern aus mangelnden Interesse an einem Sozialismus, der auch dem kapitalistischem System gefährlich werden konnte. In den monopolbürokratischen Staaten gab es keine Volksbewegung für einen demokratisierten Sozialismus, in Polen noch nicht, in der DDR nur bei Kleingruppen, und in Ungarn begann sich die Bevölkerung gerade mit dem „Gulaschkommunismus“ des Verräters seiner Genossen Kádár zu arrangieren.

TASS ist bevollmächtigt zu erklären, daß sich Persönlichkeiten der Partei und des Staates der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik an die Sowjetunion und die anderen verbündeten Staaten mit der Bitte gewandt haben, dem tschechoslowakischen Brudervolk dringend Hilfe, einschließlich der Hilfe durch bewaffnete Kräfte, zu gewähren.(16)

Was bedeutet es für einen jungen Menschen, der halb ablehnend, halb zum Arrangement bereit ist, in dem Staat DDR mitzuarbeiten, ein Staat, der ihn einerseits eine Schulbildung vermittelt hat, der aber die wesentlichen Bereiche des Lebens auf Lüge, Propaganda und Gängelung bis ins Privatleben hinein gründet? Wie muss sich ein Student fühlen, nachdem er mit dem Prager Frühling neue Hoffnung schöpft, es könne sich alles ändern, und der dann durch die Invasion der sowjetischen Panzer brutal in diesen Hoffnungen enttäuscht wird. Welche Auswirkungen haben die Niederschlagung der Demokratisierungs- und Humanisierungsversuche in der damaligen ČSSR auf ihn? Was muss er denken, wenn die herrschenden Parteibürokraten in seinem Staat gegen alles hetzen, was ihm am Prager Frühling wichtig war?
Die erste Reaktion dieses jungen Mannes mit DDR-Sozialisation war: Dieses System ist nicht reformierbar, es gibt keinen positiven Bezug mehr zum, wie ich es später nennen werde, monopolbürokratischen Kollektivismus. Für mich war die DDR kein Staat mehr, der mir irgendetwas Positives bedeuten konnte.

Für die DDR-Führung war der Überfall und die Okkupation der ČSSR eine „Brudertat zum Schutz der ČSSR und damit des Friedens und des Sozialismus“ (17).

Diese Erkenntnis zog zwei gravierende Entschlüsse nach sich: Ich konnte nicht mehr Lehrer in diesem System werden, ohne mich total verbiegen zu müssen; deshalb provozierte ich meine Zwangsexmatrikulation und ging wieder als Facharbeiter in die Produktion. Der zweite Entschluss war, die DDR zu verlassen, um mich intellektuell weiter zu entwickeln. (Was es mit der marxschen Theorie auf sich hat, habe ich an einer westdeutschen Universität gelernt, nicht im „Marxismus-Leninismus-Unterricht“ an der Uni in Leipzig. Seit Jahren wird allerdings in dem nun vereinigten Deutschland versucht, das kritische Denken abzuwickeln, das Studium zu verschulen wie in der DDR und Lehrstühle, auf denen Marxisten lehrten, nach der Emeritierung ihrer Inhaber abzuschaffen.)

Doch das waren am 21. August 1968 erst nur unklare Überlegungen. Ich war nicht nur enttäuscht, sondern auch wütend, ich wollte etwas gegen den Einmarsch der Panzer in die ČSSR tun, auch wenn dieser Protest hoffnungslos erschien angesichts der damaligen Lethargie der Bevölkerung der DDR. Am nächsten Tag fuhr ich zu meinen Eltern, wo ich eine Schreibmaschine hatte, besorgte mir Durchschlagpapier und entwarf ein kurzes Flugblatt von einer halben DIN-A4-Seite, dass ich dann vervielfältigte. Den folgenden Tag war ich wieder in Leipzig und verbreitete die Zettel mit einigen Kommilitonen in der Innenstadt, u. a. in der Nähe des Kabaretts „Pfeffermühle“. Dreißig Zettel gegen Millionenauflagen der SED-Zeitungen.

Bern-Lutz Lange, der bekannte Kabarettist von den „academixern“, hat die Akten der „Deutschen Volkspolizei“ eingesehen und nennt die Zahlen zum Protest in Leipzig:
„ Auch bei uns im Bezirk krochen einige Ratten aus den Löchern hervor, schmierten, verbreiteten Hetzblätter … 130 Fälle standen im Zusammenhang mit den Ereignissen in der ČSSR.
So gab es in
30 Fällen Hetzzettelverbreitung
44 Fällen Schmierereien
86 Fällen mündlich begangene Straftaten
15 Fälle andere Begehungsweisen.“ (17)

Anmerkungen

  1. Nachrichten aus der ČSSR. Dokumentation der Wochenzeitung „Literární listy“ des Tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes. Prag Februar-August 1968. Hrsg. v. Josef Škvorecký, Ffm. 1968, S. 170 f.
  2. ČSSR: Der Weg zum demokratischen Sozialismus. Tatsachen zu den Ereignissen von Januar bis Mai 1968. Hrsg. Pragopress Features Prag, Tschechoslowakei 1968, S. 3.
  3. Stichwort „Prager Frühling“ in Wikipedia, August 2008.
  4. ČSSR: Der Weg zum demokratischen Sozialismus. Tatsachen zu den Ereignissen von Januar bis Mai 1968. Hrsg. Pragopress Features Prag, Tschechoslowakei 1968, S. 9.
  5. Nachrichten aus der ČSSR. Dokumentation der Wochenzeitung „Literární listy“ des Tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes. Prag Februar-August 1968. Hrsg. v. Josef Škvorecký, Ffm. 1968, S. 325.
  6. Ludvík Vaculík: 2000 Worte, aus: Nachrichten aus der ČSSR. Dokumentation der Wochenzeitung „Literární listy“ des Tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes. Prag Februar-August 1968. Hrsg. v. Josef Škvorecký, Ffm. 1968, S. 170 -178.
  7. ČSSR: Der Weg zum demokratischen Sozialismus. Tatsachen zu den Ereignissen von Januar bis Mai 1968. Hrsg. Pragopress Features Prag, Tschechoslowakei 1968, S. 69.
  8. Ivan Sviták: Verbotene Horizonte. Prag zwischen zwei Wintern, Freiburg 1969, S. 97.
  9. Praha. Karal Kýhos, Jan Noha, Prag 1966, S. 13.
  10. Vladimir Klokočka: Demokratischer Sozialismus. Ein authentisches Modell. Und ein Interview mit Rudi Dutschke, Hamburg, 1968, S. 105 f.
  11. Brief der Warschauer Paktstaaten an die Prager Führung, aus: Der Fall CSSR. Strafaktion gegen einen Bruderstaat. Eine Dokumentation. Redaktion Klaus Kamberger, Ffm. 1968, S. 125-131.
  12. Mit der Breschnew-Doktrin wurde von der Vormacht Sowjetunion die begrenzte Souveränität ihrer Satellitenstaaten in Osteuropa festgeschrieben. Die Niederschlagung des Prager Frühlings machte diese Doktrin offensichtlich, obwohl sie nie explizit als Abkommen oder Beschluss formuliert wurde.
  13. ČSSR: Der Weg zum demokratischen Sozialismus. Tatsachen zu den Ereignissen von Januar bis Mai 1968. Hrsg. Pragopress Features Prag, Tschechoslowakei 1968, S. 73.
  14. Der Fall CSSR. Strafaktion gegen einen Bruderstaat. Eine Dokumentation. Redaktion Klaus Kamberger, Ffm. 1968, S. 10.
  15. Der Fall CSSR. Strafaktion gegen einen Bruderstaat. Eine Dokumentation. Redaktion Klaus Kamberger, Ffm. 1968, S. 51.
  16. Der Fall CSSR. Strafaktion gegen einen Bruderstaat. Eine Dokumentation. Redaktion Klaus Kamberger, Ffm. 1968, S. 13.
  17. Lange, Bernd-Lutz: Mauer, Jeans und Prager Frühling, 2007, S. 335.

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Trotz alledem
Ein Kommentar zum Prager Frühling 1968

Von Bodo Gaßmann

Literatur zur Studentenbewegung 1968 hat Hochkonjunktur, über den Prager Frühling im gleichen Jahr liegt nichts in den Buchhandlungen. Dieser Kommentar, der die Möglichkeiten der damaligen sozialistischen Reformer einzuschätzen versucht, ist eine Ergänzung zu meinem Erlebnisbericht.

Da ist eine Clique von Apparatschicks in den kommunistischen Parteien der Ostblockstaaten, die sich anmaßt, die Interessen der Arbeiterklasse ihrer Länder zu vertreten. Dies kann sie nur, indem sie alle kritischen Meinungsäußerungen unterdrückt, damit diese Klasse gar nicht fähig sein kann, ihre Interessen selbst zu artikulieren. Die Abschaffung der Zensur und die aufblühende öffentliche Diskussion in den Medien und auf der Straße, wie es der Prager Frühling 1968 ermöglicht, lange vor Gorbatschows Glasnost, muss diesen Funktionären als Angriff auf ihre Macht, auf ihre Sonderrechte und ihr Herrschaftssystem erscheinen, das schon lange nichts mehr zu tun hat mit dem emanzipativen Anspruch, den die Idee des Sozialismus einst beinhaltete. Entsprechend kritisieren die „Bruderparteien“ auch, die Pressefreiheit würde „der Desorientierung der Arbeiterklasse und aller Werktätigen“ dienen (siehe Erlebnisbericht, Anm. 6). (Der repressiven Toleranz, die von der herrschenden Klasse im Westen praktiziert wird, nämlich die Massenmedien zu beherrschen, gegen deren Dröhnen kritische Medien nur leise anblöken können, trauen sie noch nicht.)

Heraus kommt in so einem System: Heuchelei, Desinformation, ideologische Verzerrungen bis hin zur direkten Lüge, Intrigen, Angst vor den Volksmassen, Diskriminierung und Terror. Doch solche Anklagen und moralischen Verdikte bleiben abstrakt, wenn man nicht die Bedingungen untersucht, unter denen solch ein Gesellschaftssystem des „monopolbürokratischen Kollektivismus“ (Kuron/Modzelewski) zustande gekommen ist und existiert. (1)

In der 2. Hälfte des 20er Jahre hatte die Sowjetunion die Alternative, nachdem die Weltrevolution ausgeblieben war, auf die man gehofft hatte, ihr sozialistisches Projekt aufzugeben (und evtl. so etwas zu machen wie heute in China, d. h. die „Neue ökonomische Politik“ fortzusetzen, oder den „Sozialismus in einem Land“ (Stalin) aufzubauen. Da in der damaligen bolschewistischen KP bereits viele Karrieren, Posten und Privilegien von Funktionsträgern eingenommen waren, der Blutzoll des Bürgerkrieges als Verpflichtung galt und die Aufgabe der Macht einem Todesurteil der Kader gleichgekommen wäre, konnte sich Stalin mit seiner Losung durchsetzen. Es ging letztlich nur noch um das Wie: Lang andauernde Förderung der Bauern, um von deren Mehrprodukt die Industrialisierung zu bezahlen (Bucharin) – oder – forcierte Industrialisierung mit einer etwaigen Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, um die Bauern, die Mehrheit der Bevölkerung, unter Kontrolle zu halten (Trotzki, Stalin). Die beispiellosen Erfolge der Industrialisierung, bei allen Fehlern, die gemacht wurden, und der Sieg der Sowjetunion über das faschistische Deutschland haben im Nachhinein dieser Variante einer gewisse Rechtfertigung gegeben – trotz des Terrors und der Entwicklung von der Diktatur des Proletariats über die der Partei bis zur Diktatur eines „Führers“ (Woschd). Ob die Industrialisierung auch humaner hätte durchgeführt werden können, darüber zu spekulieren ist aus heutiger Sicht müßig – die Geschichte war so und kann nicht mehr geändert werden.

Das Ergebnis der Industrialisierungsperiode war in den 50er Jahren nach Stalins Tod eine Einparteienherrschaft mit kollektiver Führung, die alle Bereiche des Lebens versuchte administrativ zu lenken. Man wollte weg von der oft willkürlichen Kommandostruktur unter Stalin, aber auch keine wirkliche sozialistische Demokratie zulassen. Breschnew lässt der tschechoslowakischen Führung diese Variante der politischen Herrschaft als Ratschlag zukommen:

„Wir waren überzeugt, daß Sie das Leninsche Prinzip des demokratischen Zentralismus wie Ihren Augapfel hüten werden. Jegliche Mißachtung einer Seite dieses Prinzips, sowohl der Demokratie als auch des Zentralismus, schwächt unvermeidlich die Partei und ihre führende Rolle und verwandelt die Partei entweder in eine bürokratische Organisation oder in einen Diskussionsklub.“ (2) 

Die Missachtung der einen Seite, der Demokratie, war Prinzip in der Sowjetunion, deshalb die Angst vor einem „Diskussionsklub“. Die Pressefreiheit in der ČSSR gefährdete die politische Herrschaft der KP’s und damit ihres autoritären Sozialismusmodells, das gar kein Sozialismus war.

Betrachtet man die Politik von Gorbatschow, der an Bucharin anknüpfte, oder die der KP Chinas heute, dann muss man Breschnew insofern Recht geben, als eine Liberalisierung der Ökonomie oder der Gesellschaft oder beider das Ende des „Sozialismus“ dieser Art herbeigeführt hat. Die KPČ und die Mehrheit der Tschechen und Slowaken wollten aber am Sozialismus festhalten (siehe Erlebnisbericht, Anm. 7). Was also hatten sie überhaupt für realistische Möglichkeiten, einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu realisieren?

Die administrativ gelenkte starre Planwirtschaft der 60er Jahre hatte zu Versorgungsschwierigkeiten und einer mangelnden Entwicklung der Produktivität (im Vergleich zu Westeuropa) geführt. Da die Konsuminteressen der Werktätigen nur unzureichend in die Planziele eingingen (also bei der Planzielbestimmung keine Mitbestimmung bestand), breitete sich Desinteresse, Schlendrian und Arbeitsbummelei aus. (Ein Fiatwerk, das mit gleicher Technik in Moskau wie sein Schwesterwerk in Italien betrieben wurde, hatte in Moskau eine 30 % niedrigere Arbeitsproduktivität. Ähnliches wird für die ČSSR gegolten haben.) Nun könnte man sagen, dass die Arbeit humaner war, nicht so eine Arbeitshetze wie im Westen herrschte usw. Aber diese Art des Sozialismus, wie immer er sich vom kapitalistischen Weltmarkt abschottete, stand doch militärisch in Konkurrenz zu den imperialistischen Staaten des Westens. (Erinnert sei an Reagens Leitlinie, die Sowjetunion „totrüsten“ zu wollen.) Konkret wirkte sich diese Konkurrenz im Ostblock dadurch aus, dass die Schwerindustrie und mit ihr die Rüstungsindustrie mehr gefördert wurde als die Konsumgüterindustrie.

Insgesamt zeigt sich an diesem Dilemma, humaner als der Kapitalismus sein zu wollen und doch in der Konkurrenz mit ihm mithalten zu können, die historische Unmöglichkeit, Sozialismus in einem oder ein paar Ländern errichten zu können. Entweder man versucht mit dem kapitalistischen Wesen ökonomisch mitzuhalten, dann muss man administrativen Zwang auf die Bevölkerung ausüben und die emanzipatorische Seite des Sozialismus verschwindet, also das, was ihn vom kapitalistischen System wesentlich unterscheidet. Oder man könnte sich abschotten vom Weltmarkt, um sich eine langsamere Entwicklung zu erlauben, die ökologisch und sozialverträglich ist und den emanzipatorischen Aspekt nicht nur in der Propaganda beachtet, dann gerät man militärisch in Nachteil und unterliegt letztlich dem roll back.

Der einzige ernst zu nehmende alternative Versuch, Sozialismus in Konkurrenz zum kapitalistischen System zu betreiben, war im Prager Frühling der sogenannte Dritte Weg von Ota Šik. Er wollte eine sozialistische Marktwirtschaft, die Befreiung der Betriebe von staatlicher Führung, den Abbau der Bürokratie und die Zulassung autonomer Gewerkschaften und privater Kleinbetriebe sowie Joint Ventures mit westlichem Kapital. Weiter gehörten zu seinem Konzept die Einführung der Arbeiterselbstverwaltung und das Ende der staatlichen Lenkung der Preisbildung.

Der Unterschied zur kapitalistischen Wirtschaft der bürgerlichen Demokratien wäre dann lediglich einer der Eigentumsverhältnisse. Statt Privatkapital hätten die Betriebe gesellschaftliche Eigentümer und ansonsten würden sie sich vom kapitalistischen System bestenfalls durch ein paar mehr soziale Einrichtungen unterscheiden. Sie wären wie die kapitalistischen Betriebe den Konjunkturen und Krisen des Marktes ausgesetzt. Die Umgestaltung müsste zu ähnlichen Katastrophen für die Werktätigen führen wie später die Deindustrialisierung der vereinnahmten DDR und die der ČSR. Denn die Betriebe der ČSSR würden, dem Weltmarkt ausgesetzt, wegen ihrer mangelnden Produktivität Pleite gehen. Schottete sich der „Dritte Weg“ jedoch vom Weltmarkt ab, dann gäbe es keine Joint Ventures. Kein westliches Kapital mit höherer Produktivität würde investieren und die alten Probleme eines isolierten Sozialismus würden sich reproduzieren.

Fazit: Wären die Warschauer-Pakt-Staaten nicht einmarschiert, dann wäre der Prager Frühling vielleicht in den Herbst der Sachzwänge versandet. Nichtsdestotrotz hätte er versucht werden müssen. Keine Theorie kann exakt voraussagen, welche Potenzen in den Menschen schlummern, wie kreativ sie mit ihren Problemen umgehen. Die Demokratisierung einer Gesellschaft mit sozialistischen Produktionsverhältnissen ist die condito sine qua non, emanzipatorische Kräfte zu entbinden. Es war der einzige historische Versuch, der Menschheit zu zeigen, wohin ihre Entwicklung hätte gehen können. Die Tschechen und Slowaken waren für einen kurzen Moment der Geschichte die Avantgarde der Menschheit. Der Einmarsch hat aus dem Frühling mit einem Schlag einen harten Winter gemacht, dessen mieses Wetter weiter besteht, auch wenn Väterchen Frost verschwunden ist. Am Barometer der sich prostituierenden Frauen an der tschechischen Grenze zu Deutschland lässt sich der Stand des Wetters ablesen, den die Freiheit des Kapitals mit sich brachte.

Anmerkungen

  1. Vgl. meine Aufsätze zum Zerfall des Ostblocks und der DDR:
    - Klarstellungen zum Wendesozialismus. Oder wie der monopolbürokratische Kollektivismus sich reformiert, in: Erinnyen. Zeitschrift für materialistische Ethik. Hrsg. vom Verein zur Förderung des dialektischen Denkens. Nr. 5, Garbsen 1990, S. 8 – 12.
    - Wohin geht die DDR? Friedliche Eroberung oder eigenständiger Weg?, in: Erinnyen. Zeitschrift für materialistische Ethik. Hrsg. vom Verein zur Förderung des dialektischen Denkens. Nr. 6, Garbsen 1991, S. 4 – 25.
  2. Der Fall CSSR. Strafaktion gegen einen Bruderstaat. Eine Dokumentation. Redaktion Klaus Kamberger, Ffm. 1968, S. 127.

 

 

 

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