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Titel 2009

Nachtgedanken zum 20. Jahrestag der Maueröffnung

von B. Gaßmann

Als die Mauer in Berlin gebaut wurde und die grüne Grenze zwischen der DDR und der BRD noch durchbruchssicherer, z.B. mit Minenfeldern, befestigt wurde, war ich gerade 14 Jahre alt. Noch im Schlafanzug saß ich vor dem Fernseher und sah im Westsender wie sie in Berlin Stein auf Stein das Ding hochzogen. Mein erster Gedanke war: Jetzt kommst du nie mehr in den Westen. In den Fünfzigern war ich als Kind mit meiner Mutter zweimal in Niedersachsen bei meiner Tante, 1959 wurde ein Reisegesuch bereits abgelehnt – und jetzt, 1961, die endgültige Sperre. Damals fing meine Politisierung an, die im Engagement für einen freiheitlichen Sozialismus kulminierte.

   1989 saß ich wieder vor dem Fernseher, diesmal auf der niedersächsischen Seite der Grenze, ausgestoßen, abgekauft, emigriert, und erlebte, wieder vor der Glotze, wie die Menge nach Schabowskis Ankündigung den Durchgang zum Kurfürstendamm erzwang.

   Einerseits kamen mir die Tränen hoch vor Freude, dass dieses Ding endlich auf ist, die Leute frei reisen können, andererseits versuchte ich diese Gefühle zu bremsen, denn ich wusste, dass ein freiheitlicher Sozialismus als Alternative zum bürokratischen Kollektivismus der SED durch das – jetzt erlebbare -Wohlstandgefälle immer weniger wahrscheinlich wird. Meine Gedanken dazu habe ich damals in einem Vortrag formuliert mit dem Titel „Wohin geht die DDR?“ (abgedruckt in: Erinnyen Nr. 6, S. 5 ff.). Tatsächlich schrieen die demonstrierenden Massen auch bald nicht mehr „Wir sind das Volk“, sondern „Wir sind ein Volk“ und dann drohten sie: Kommt die D-Mark nicht zu uns, kommen wir zur D-Mark. Die hundert DM „Begrüßungsgeld“ für jeden Besucher, der die Grenze überschritt, die vollen Supermarktregale auf der Westseite, die inszenierte Stimmung in der Noch-DDR, die Ost-CDU zu wählen, Kohls Versprechen der blühenden Landschaften und – nicht zuletzt – die Bevormundung, Heuchelei und die ökonomische Unfähigkeit der mediokren Funktionäre, die eine permanente Beleidigung des moralischen Ichs derjenigen war, die sich ihr eigenständiges Denken bewahrt hatten, musste schließlich zur demokratischen Abschaffung der DDR führen – nicht zu einer wahren Alternative zur Klassengesellschaft überhaupt. In Deutschland ist eben noch nie eine Revolution gelungen.

Unter der adenauerschen Losung „Keine Experimente“ wurde das größte friedliche Experiment in der deutschen Geschichte durchgeführt: Das Plattmachen der konkurrenzunfähigen DDR-Betriebe zu Gunsten des westdeutschen Kapitals. Es gab aber auch die andere Seite: Ein 56-jähriger Frührentner in meinem thüringischen Geburtsort erzählte mir in den Neunzigern, dass er jetzt als Rentner materiell besser lebe denn als Arbeitender zu DDR-Zeiten.

Nichtsdestotrotz, Mauerbau und Mauerfall kann man nicht nur aus der privaten Perspektive und im Blick auf den persönlichen Wohlstand sehen. Objektiv hat das (praktisch notwendige) Ende des Ostblocks zu einer Befreiung der prokapitalistischen Politik von sozialen und pazifistischen Rücksichten geführt. Man hat den sozialen Ball, auf dem man durch Arbeitslosigkeit usw. fällt, bevor man ganz auf den Boden aufschlägt, immer mehr die Luft herausgelassen. Die Reallöhne stagnieren oder sind gesunken, obwohl die Anhäufung des Reichtums auf der Kapitalseite drastisch gestiegen ist. Weltweit hungern heute mehr Menschen als vor 1990. Um ähnliche Proteste wie 1989 in der DDR nun in Gesamtdeutschland zu verhindern, ist der Sicherheitsapparat massiv ausgebaut worden. Sicherheitsbehörden wie das Bundeskriminalamt bekamen Befugnisse, die sich denen der Stasi annähern. Die Privatsphäre wird ausgehöhlt, der Rechtsstaat eingeschränkt. Die neoliberale Propaganda beherrscht heute die Gehirne der Masse konsequenter als es die Einheitspartei je konnte, sodass sie sogar Wahlergebnisse gegen die objektiven Interessen der Bevölkerung produzieren kann wie einst in der DDR (vgl. Müller: Meinungsmache).

Galt nach 1945 „Nie wieder Krieg von deutschen Boden aus“, wurde die Volksarmee 1968 von Breschnew abgehalten mit in die Tschechoslowakei einzumarschieren, obwohl Ulbricht mitkriegen wollte, so sind seit Schröders völkerrechtswidrigem Krieg gegen Serbien (ca. 3000 Tote) solche Hemmungen gefallen, die Bundeswehr steht heute in oder vor vielen Ländern im Kriegseinsatz. Bedenkt man, dass sich das Kapital nur erhalten kann, indem es wächst, also auf der ständigen Suche nach Absatzmärkten, Rohstoffquellen und Anlagemöglichkeiten für überschüssiges Kapital ist, die Politik die Aufgabe hat, diese Geschäftsbedingungen zu sichern, dann sind ständig weitere Kriege eine Notwendigkeit im siegreichen Kapitalismus.

Da ist es nicht verwunderlich, wenn die Feiern zum 20. Jahrestag des Mauerfalls in diesen Zusammenhang eingebettet sind. Die offizielle Geschichtspolitik kocht auf solchen Feiern regelmäßig ihren Propagandafraß. Der berechtigte Stolz der ostdeutschen Bevölkerung, die Mauer durch ihren Protest beseitigt zu haben, wird instrumentalisiert zur antikommunistischen Hetze. Diese funktioniert nach dem Trick, das DDR- und Sowjetsystem, das kein Kommunismus war, auch nicht versuchte diesen aufzubauen, mit der Ideen des Kommunismus/Sozialismus, der nur als freier denkbar ist, wenn nicht die „alte Scheiße“ der Klassengesellschaft von vorn losgehen soll (Marx), bewusst zu verwechseln und zu vermischen, um jeden Gedanken an eine herrschaftslose Welt gar nicht erst denkbar werden zu lassen. Man benötigt Feindbilder, um im demokratischen Kapitalismus die Massen von revolutionären Dummheiten abzuhalten und für den modernen Imperialismus geneigt zu machen.

Neben mir sitzt gerade meine Tochter noch im Schlafanzug auf dem Sofa und haut sich „Deutschland sucht den Superstar“ rein. Die Berliner Mauer ist lange weg und sie braucht sich darum keine Sorgen zu machen. Aber der Konkurrenzkrieg vor den Gesangsmikrofonen mit der höhnischen Ausgrenzung der Talentlosen, die man extra deshalb eingeladen hat, um sie zu beschimpfen, bereitet die Seele der Zuschauer auf die neuen Mauern vor, die Europa gegen die Unproduktiven aufrichtet, welche die Außengrenzen Europas überklettern wollen. Ich habe noch viel Überzeugungsarbeit vor mir.

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Letzte Aktualisierung: 02.09.2010